Am 26. September 1983 leitete der russische Oberstleutnant Petrow die Kommandozentrale Serpuchow 15 bei Moskau, ein Raketenwarnsystem der UdSSR. Kurz nach Mitternacht wurde plötzlich Atomalarm ausgelöst. Ein Satellit hatte den Anflug einer US-amerikanischen Atomrakete des Typs Minuteman gemeldet. Kurz danach folgten Meldungen über weitere vier Raketen, die alle in Richtung Sowjetunion unterwegs waren. Das deutete auf einen umfassenden atomaren Erstschlag der USA hin.
Petrow blieben damals weniger als zehn Minuten, um die Flugkörper zweifelsfrei zu identifizieren. Danach musste er den damaligen KPdSU-Generalsekretär informieren, der den Gegenschlag auslösen würde. Weitere fünf Minuten später wären zahlreiche Atomraketen in Richtung Washington, New York und wichtiger Militärbasen wie zum Beispiel Ramstein in der Pfalz gestartet. So sah es die Doktrin der „gesicherten wechselseitigen Zerstörung“ vor, die sowohl die USA wie auch die UdSSR verfolgten: der Gegenschlag musste ausgelöst werden, ehe die angreifenden Raketen ihre Ziele im Gebiet des Gegners erreicht hatten.
„Die Sirene heulte, aber ich saß nur ein paar Sekunden da und starrte auf den großen, Hintergrund-beleuchteten, roten Bildschirm mit dem Wort ‚Start‘”, erzählt er. Das Computersystem teilte ihm mit, dass die Zuverlässigkeit dieses Alarms als „höchst” eingestuft wurde.
Er entschied sich aus dem Bauch heraus für „Fehlalarm“, setzte sich über seine Dienstanweisungen hinweg, informierte die obersten Generäle nicht über die Standleitung und ließ den Generalsekretär Juri W. Andropow1 schlafen. Dann wartete er schreckliche 20 Minuten lang, ob er sich nicht doch falsch entschieden hatte.
Erst zehn Jahre später kam die Sache an die Öffentlichkeit. Petrow erhielt noch wenige Ehrungen für sein umsichtiges Verhalten, starb aber arm und einsam im Jahr 2017 in einer kleinen Stadt in der Nähe von Moskau.Wir sollten sein Andenken ehren und seinen Mut bewundern.
Welch ein Vorbild an Zivilcourage!
Was kaum bekannt ist: es gab ca. 20 ähnliche Vorfälle, auch im NATO-Bereich, in denen jeweils nur durch glückliche Umstände die Auslösung des Atomkriegs verhindert wurde. Auch in der jetzigen Situation, in der sogar offen von den USA und der Russischen Föderation ein Atomwaffeneinsatz erwogen wird, muss alles getan werden, das zu verhindern.
Wer war Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow?
Anders gefragt, wissen Sie heute noch, wo Sie in den Nachtstunden des Sonntags, dem 25. September 1983 waren, oder was Sie damals gemacht haben? So zwischen ca. 23.15 und 23.35 Uhr?
Ja tatsächlich, oder Nein woher denn.
Oder aber, vielleicht gibt Ihr Tagebuch noch Auskunft.
Wo und wie auch immer, jedenfalls sollten Sie wissen, zu diesem Zeitpunkt waren Sie eigentlich so gut wie tot.
Gemäß Moskauer Zeit war es bereits Montag der 26. September 0.15 Uhr. Oberstleutnant Stanislaw Petrow, kurzfristig und zufällig ausgewählte Vertretung für einen verhinderten Kollegen, ist nun diensthabender Verantwortlicher für die Überwachung des US-Amerikanischen Luftraums. Kurz nach Mitternacht dann der erste Alarm. Das russische Frühwarnsystem meldet den Start einer US-Interkontinentalrakete. Nichts deutete auf eine Fehlfunktion hin, so dass die Satellitenaufnahmen den Raketenabschuss bestätigen müssten. Aufgrund der Lichtverhältnisse während der Abenddämmerung über dem mutmaßlichen Startgelände waren diese Aufnahmen jedoch wertlos und nicht zur Klärung geeignet. Bei 50% Wahrscheinlichkeit entschied Petrow, dass ein
Systemfehler vorläge.
Die sowjetischen Streitkräfte standen bereit, den Gegenschlag auszulösen. Doch Petrow blieb skeptisch. Die Verteidigungsdoktrin des sowjetischen Militärs ging, mit hoher Wahrscheinlichkeit, bei einem nuklearen Erstschlag von einem Angriffszenario aus bei dem die USA mit einem massiven Schlag und nicht vereinzelten Raketen angreifen würden. Noch während Petrow mit dem Generalstab telefonierte, zeigte das Computersystem viermal weitere Raketenstarts an. Seinem Vorgesetzten erklärte Petrow, mit Bestimmtheit, auch dies sei falscher Alarm, obwohl er keine Zeit gehabt hatte einen Systemfehler bei der IT- und Satelliten-Infrastruktur festzustellen. Er hatte zur Klärung und Entscheidungsfindung nur Ausbildung und Training, gesunden Menschenverstand und Bauchgefühl, so wie gerade einmal zwei Minuten. Nach den nun so verstrichenen 120 Sekunden war das Zeitfenster geschlossen, um den vorgesehenen Gegenschlag noch effektiv auslösen zu können. Petrow hatte das Fenster zur nuklearen Abschreckung, zur gegenseitigen Vernichtung eigenmächtig geschlossen.
Was ihm nun noch blieb, das waren wohl endlos lange 15 Minuten des Wartens auf Einschläge, oder viel mehr deren erhofftes Ausbleiben. In dieser schrecklichen Zeitspanne hatte Stanislaw Petrow nur noch zweierlei zu erwarten: ob er die Vernichtung seines Landes und allen Lebens darin widerstandslos hatte geschehen lassen, oder aber möglicherweise das Ende seines persönlichen Lebens in Freiheit vor Augen hatte?
Schließlich hatte er alleinverantwortlich die Systematik einer unbedingten Befehlskette unterbrochen sowie zudem eigenmächtig die Preisgabe des Nuklearschirms zum vermeintlichen Schutz von 280.000.000 Menschen zu verantworten. Petrow wurde für seine befehlswidrige Entscheidung und demgemäßen Handeln nicht bestraft: Allerdings wurde er auch nicht belobigt oder dafür belohnt; dass er das Überleben der Menschheit sozusagen im Alleingang geschultert hatte. Vielmehr wurde er öffentlich totgeschwiegen. Denn alles Aufsehen um seine Person und diesen Vorfall hätte immer auch die Fehleranfälligkeit und damit die Absurdität der sog. nuklearen Ab schreckung offen gelegt. Ganz zu schweigen von den Dilemmata denen sich zunächst Petrow und danach dessen Vorgeordnete ausgesetzt sahen, in der Beurteilung seines Verhaltens.
Die Fehlalarme beruhten übrigens auf einem seltenen Zusammentreffen, von außergewöhnlicher Wetter- und Sonnen-Phänomenen, die der seinerzeitigen Satelliten und IT-Technologie Reflektionen als Raketenstarts vorgaukelten. Es gab bereits in den Jahrzehnten zuvor, wie auch in den letzten vierzig Jahren auf beiden Seiten etliche Vorfälle, technischen und menschlichen Versagens von denen wir heute wissen oder aus denen wir begründet annehmen können, dass diese uns unbeabsichtigt an den Rand der Vernichtung geführt hatten.
Quelle: Flyer des Bremer Friedensforums 2023 (1. Teil) – Wir danken für die Genehmigung zur Veröffentlichung.
Siehe auch die Würdigung Petrows im ARD-Morgenmagazin, 26.3.2023.
- Geboren: 7. September 1939, Verstorben: 19. Mai 2017 [↩]